Anfahrt mit dem 9-Euro-Ticket von Bochum aus, über Warburg, von dort im völlig überfüllten SEV-Bus nach Kassel. Ein sehr gemischtes Publikum, einer drängt sich zu sehr von hinten an mich ran, so dass ich mich gezwungen seh, ihm meinen Koffer in die Eier zu rammen, sorry für das Erwähnen dieser Unannehmlichkeit, aber es gehört zum Thema Nahverkehr – was er wohl zu wörtlich verstanden hat. Andere schnaufen einem ohne Maske voll ins Gesicht. Soll ich etwas sagen, bin ich grad so konfliktfreudig oder dreh ich mich möglichst weg, müde von der Fahrt, dem Stehen, der Ignoranz und dem fehlenden Respekt. Zuviel unerwünschte Nähe im Nahverkehr!
Ein leichtes freudiges Kribbeln, als ich den Vorplatz des Hauptbahnhofs Kassel betrete und den „Himmelstürmer“ wiedersehe. Meine bisherigen Besuche der documenta in den Jahren 2012..2007..2002..1997.. sind mir als inspirierende Erlebnisse geblieben, als Feste der Kunst und Begegnungen.
Dieses Mal wohne ich in Kassel-Ost im Sandershaus, was ich ausgewählt habe, da sie auch mit Zukunftswerkstätten von Serigrafistas queer und Trampoline House an der documenta teilnehmen. Ein mit viel Kreativität ausgestaltetes großes Hostel, im obersten Stockwerk wohnen Flüchtlinge, im Garten sind Zelte, Tipis, Bepflanzungen und eine abgeteilte Wohnwagenburg aufgebaut anlässlich der documenta.
Aber bloß keine Romantik aufkommen lassen, am nächsten Morgen werde ich gnadenlos um kurz vor 6Uhr aus dem Schlaf gerissen von dem höllischen Geratter und Gerumpel des Kieswerkes auf der anderen Straßenseite. Entweder die Fenster schließen und in der schwülen Hitze schwitzen oder diesen krassen Geräuschpegel ertragen oder gleich aufstehen. Dafür am Abend positiv überrascht worden durch ein weiteres kulturelles Event nach einem bereits sehr ausgefüllten Tag. Im Garten zeigt Ella von der Hayde, eine Filmmacherin, auch Landschaftsplanerin, Gartenbauspezialistin ihren Film „Queer Gardening“, den sie im Auftrag und mit Unterstützung der Uni Kassel gedreht hat. Der wunderschöne Film macht mich staunen: was gibt es für unterschiedliche Wahrnehmungen, Themen, Leidenschaften auf dieser Welt. Danach habe ich gut geschlafen und bin natürlich früh aufgestanden. Irgendjemand hat bereits eine große Kanne Kaffe gemacht in der Küche. Dieses Mal saß der „Hausgeist“ mit einer Rentnerin am Tisch. Sie war ein bisschen von der Rolle, hatte nichts gewußt von der Küche, ist aber aus ihrem Mehrbettzimmer hinausgegangen, da sie die anderen nicht aufwecken wollte. „Drei junge Männer sind nachts gekommen, drei..sie waren aber ganz rücksichtsvoll. Und ich wollte in der Früh nicht stören, und dachte der Aufenthaltsraum ist auf. Er hier hat mich dann gefunden und in die Küche gebracht.“ Sie war mit 9 Euro Ticket einfach mal für zwei Tage nach Kassel gefahren, um aus ihrem Dorf herauszukommen.
Der Kasseler Osten ist zum neuen Hotspot der documenta geworden, viel Gewerbe, Arbeiterhäuschen, Industriedenkmäler, um deren Nutzung sich gestritten wird, Brachflächen, und doch ein Wohngebiet mit Charme dazwischen, alte Fachwerkhäuser, ein idyllisches Flüßchen in seinem natürlichen Flußbett mit schön renovierter Schutzmauer zur Häuserseite hin. St.Kunigundis gehört in diesen Stadtteil Bettenhausen, eine überholungsbedürftige katholische Kirche, die die Sanierung nicht abschließen konnte, da das Geld fehlte. Win-Win, die documenta half und hatte einen phantastischen Ausstellungsraum für das haitianische Kollektiv Atis Rezistans. Die Reibung zwischen den magisch aufgeladenen Kunstwerken aus Schrott, Teufelsskulpturen, Mariensäulen aus glitzernden Tablettenverpackungen und kitschigen Blinky-Blinky-Lämpchen und der traditionellen sakralen Auschmückung einer schlicht gehaltenen Kirche hat wunderbar funktioniert.
Weiter geht es zum Hübner-Areal, ebenfalls erstmalig durch die documenta für Kultur nutzbar gemacht. Ein häßlicher Bau aus den 50ger Jahren des Systemanbieters Hübner GMBH für Verkehrstechnik sowie weltweit führendes Unternehmen für Übergangssysteme. Dieser Standort wurde ein Jahr zuvor aufgegeben und stellte sich als ideal für die Umsetzung des Konzeptes von ruangrupa heraus. Erdgeschoß, Keller, erste Etage sowie der Hof wurden optimal von den verschiedenen Künstlerkollektiven genutzt.
Der Keller wird poetisch aufgeladen durch:
Amol K Patil (* 1987 Mumbai, India.) Sweep Walkers. 2022
Installation, sculptures, paintings, performance
Ein Zauberer, der den Atem von purer Erde sichtbar macht und humorvolle Verdichtungen von Alltagsgegenständen in Bronze gegossen hat.
Im ersten Stock wurde eine chinesische Betriebskantine mit (essbarem!) Buffet installiert, Fernsehscreens an den Wänden, mit Dauerberieselung, ganz authentisch, heißt es. Die Paravans dagegen sind künstlerisch aufbereitet, unter Verwendung von bunten Stoffe und anderen Utensilien.
Und die Haupthallen im Erdgeschoß sind zur Hauptattraktion geworden:
Extra für mich dabei, besser gesagt, ich extra da für sie: meine malischen Freunde aus Segou, Fondation Festival sur le Niger. Die schönsten Musikfestivals meines Lebens waren nun mal das Festival sur le Niger und das Festival du Desert von Essakane bei Timbuktu. Sie haben einen Wandteppich ( geschätzte 10 m x 4 m) mitgebracht, genäht aus dem traditionellen, pflanzengefärbten Bogalanstoff, benäht mit unzähligen Gri-Gri`s der Chasseure und Griots, andere Objekte sind eine Vielzahl an Marionetten aus Holz, und zwei moderne Wandteppich, bei denen traditionell bunte Stoffe in abstrakte Muster verarbeitet wurden. Dabei ein Ruhebreich, mit der Möglichkeit einfach zu relaxen oder auch dem Video mit Präsentationen der Fondation zuzuschauen. Gut gemacht, mes amies! Eine angenehme Mischung von Kunst und Information. In Mali geht es schon lange um Kultur als Überlebensmittel, ohne Musik ist der Alltag nicht denkbar, und ohne Humor, wie es in dem Figurentheater praktiziert wird, ist ein herausfordernder Alltag mit manchmal nur einer Mahlzeit am Tag nicht zu leben. Aber die Beschaffung von Wissen für Landwirtschaft, Handwerk , Anschluss an neue Technologien, Bildung der Jungen und Handel sind Aufgaben auch eines Kulturvereines. Damit sind sie exemplarisch für die meisten Beiträge der geladenen Kunst-Kollektive der sogenannten Länder des Südens.
Wie wichtig, genug zu essen und trinken zu haben, um dann weiterzugehen, zu kreieren, Kunst und menschliche Lebensstrukturen für alle. Sorry für die Absahner des Kunstmarktes, das ist nicht ein großes Geschäft für euch, so ein Konzept.
Aber worum geht es 2022?
Hier in der Halle finden sich Kunstwerke aus verschiedensten Ländern der Welt, von der dänischen Kulturorganisation, die mit Flüchtlingen kunstvolle Stoffskulpturen und Installationen aus Materialien, die in den Lagern vorhanden sind, geschaffen hat. Asiatische Länder sind vertreten, die meinen Horizont übersteigen, ist es Südkorea, Malaysia oder Vietnam, raffinierte Stoffbearbeitungen mit Konturen von Körpern, von Leuten, die sich auf diese Art ganzkörperlich portraitrieren liessen, kleine Tonfiguren, Ceramic-Soundfestival, ein Massenevent, bei dem Hunderte zusammen mit Stöcken auf Dachziegeln trommeln…unglaublich, es gibt so viel zu entdecken, hier und in der Welt.
Schade, dass es zwar viele Projektpräsentationen auf Video gibt, aber keine Vertreter dieser Projekte leibhaftig als Ansprechpartner da sind. Zumindest eine(r) sollte doch die Arbeit auch vor Ort vertreten. Ist das nicht möglich für 100 Tage? Auch der indonesische Puppenspieler Agus Nur Amal ist leider nicht anzutreffen, seine Utensilien und Videos allein reichen nicht aus, es fehlt das Leben!
Die Sau, die ohne Unterlass durch das documenta 15 -Dorf getrieben wurde: Taring Pada im ehemaligen Schwimmbad Kassel-Ost. Vor dem Gebäude stehen die bemalten Pappschilder mit Sprüchen auf indonesisch, man kann raten oder für sich verallgemeinern: es ist Agitation, für Demonstrationen angefertigt (es würde sogar Regen standhalten, da sie mit Holzleim eingelassen wurden, wie mir jemand erklärte, allerdings hat es in Kassel kaum geregnet, strohtrocken alles)
In dem alten Ziegelsteingebäude geht es weiter mit großformatigen Wandtableaus, roter Panzer im Erdgeschoss, rote Arme mit geschlossenen Fäusten, die sich aus den Gräbern, der Erde herausstrecken. Okay, okay, verständlich Leute, aber diese militante Aggression, die da herausschwappt, ist nicht meine Sache. Auch ästhetisch nicht interessant für mich, so sorry. Der ganze negative Hype, der soviel Aufmerksamkeit auf diese Gruppe gelenkt hat, so sorry…
Ich verstehe nicht, was das indonesische Kuratorenteam mit dieser indonesischen Agit-Prop-Truppe so sehr verbindet, dass sie derart überpräsentiert sind? In der Stadt hängen mindestens noch zwei Bilder an prominenten Plätzen (C&A Fassade sowie bei der Drahtbrücke), mal abgesehen von dem abgehängten Großtableau am Friedrichsplatz himself. Gab es keine anderen Kunstkollektive? Gab es Vetternwirtschaft? Ist es ein Irrtum? Oder sind sie tatsächlich alle so überzeugt von sich?
Im Garten des Schwimmbades kann man herumsitzen, essen, trinken und auf der Bühne gibt es jeden Abend musikalische Kleinkunst, ganz nett, was ich sehen durfte. Für die Kasseler hat sich das zum neuen Treffpunkt entwickelt, gemischt mit Documenta Besuchern. Die wenigen Kasseler, mit denen ich gesprochen habe, sind alle sehr positiv zu sprechen auf das Kuratoren Team Ruangrupa, auch auf Taring Pada und die gesamte documenta. Sie haben es verstanden die Kassler Bürger mit hineinzunehmen, sie haben mit Vereinen, Schulen, anderen Gruppen wie die Architektenvereinigung, Initiativen fruchtbar zusammengearbeitet. Chapeau!
Meine Hochachtung für ihre enorme Leistung, ein solches Konzept auf den Weg zu bringen. Deutschland würde gut dran tun auch einmal ihren Einsatz zu würdigen: Warum ist das in den Medien nie der Fall? Die Kassler Bürger scheinen zu wissen, was sie auch an dieser documenta für ihre Stadt haben.
Und zum Abschluß noch ein „documenta-Teeeeler“ bei dem syrischen Verkaufsgenie Mazen aus Idlib, der sich hier vor einiger Zeit seinen Imbiss Al Wali aufgebaut hat mit syrischen Spezialitäten. Mit einem strahlenden Lächeln, selbst in den stressigen Mittagsstunden, mit Unterstützung der ganzen Verwandtschaft bedient er und macht Späße. Allerdings der Zatar, diese herrliche Gewürzmischung aus Nahost, ist nur minimal heraus zu schmecken, die Quantität seines Umsatzes in diesen goldenen documenta Tagen scheint der Qualität nicht unbedingt förderlich. Es sei ihm gegönnt. Shukran.
Auch wenn der Randbezirk Kassel-Ost zur neuen Mitte geworden ist, ziehe ich weiter Richtung Innenstadt. Die Fulda hat einige angenehme Plätze, neu belebt über diese documenta 15, Bootsanlegestelle Ahoi, ein Badehausmuseum mit Cafe, selbst ein Luftbad beim Anker, in diesem heißen Sommer jedenfalls ist die Fulda auch in mein Bewußtsein gerückt. Alles, was Kühlung verspricht, ist willkommen. So auch die Installation der Vietnamesin Nguyen Trinh Thi im historischen Rondell. Von einer kleinen Plattform aus im kühlen Inneren kann man die Projektionen der Pflanzen auf die alten Mauern mit einer Sounduntermalung auf sich wirken lassen.
An der Orangerie vorbei steigt man hinauf zum Friedrichsplatz. Bei der Oase des Bambusgartens komme ich zur Mittagszeit gerade richtig: Essen als soziale Praxis: Das Kollektiv Britto Arts Trust aus Bangladesch hat auf der Documenta 15 einen Palan, bengalischen Gemüsegarten, angelegt und eine Küche gebaut. Nun lädt es Menschen aus aller Welt ein, gemeinsam zu kochen. Heute kocht eine Weißrussin mit anderen ein Rezept aus ihrer Heimat, eine kalte Suppe mit Kartoffeln, Yoghurt, Gurke und Eiern. Hier lässt sich gut verweilen, zwischen den Pflanzen, den hübschen Bambusgestellen. Ich beobachte, die neugierigen Documenta-besucher ziehen an mir vorbei und gucken zurück. Ich verweile, unterhalte mich, fotografiere und lasse mich fotografieren von dem eifrigen „Hoffotografen“ des Bangladesch- Team und dem Kassler Instagramm-Fan-Fotografen Kai, der sich hier oft einfindet und schon viel von der gelassenen, freundlichen Lebensart der Asiaten angenommen hat, wie er mir versichert. „Was hier stattfindet, dass hat nichts mit dem, was die Medien berichten, zu tun“, sein Kommentar zur herrschenden Gemütslage der aktiven documentar Teilnehmer.
Nach der Suppenstärkung weiter Richtung Friedrichsplatz, vertrocknet, ziemlich trostlos, ein kleines dunkles Zelt in der Mitte, Videos des Aborigines Richard Well, einer der wenigen international bekannten Künstler dieses Jahr. Videos von Demostrationen, „Das Land gehört uns“, ja, okay, und war da noch was? Manchmal wohl auch Veranstaltungen, aber jetzt nicht.
Fridericianum gut, Dokumentarhalle gut, jeder kann sich selbst informieren, bzw wird das als erstes anschauen. Bemerkenswert ist in jedem Fall auch hier eine neue Wertesetzung: im Erdgeschoß des Fridericianum ist ein großer, gut ausgestatteter Kinderbereich sowie eine Art Workspace für jedermann. Eine Herzensangelegenheit im sozialen Kontext, da kann man doch nicht nein sagen. Die Kunst allerdings muss man auch hier eher suchen.
Die Dokumentarhalle macht auf sich aufmerksam mit der Wellblechinstallation vom Wajukuu Art Project, große Skulpturen drinnen, ja da waren Künstler am Werk. Künstler, die dank des kenianischen Jugendprojektes aus Lunga-Lunga, einem Slumgebiet, ihre Chance gefunden und genutzt haben.
In der großformatigen Installation „rasad“ hat Britto Arts Trust einen kleinstädtischen Basar mit Lebensmitteln aus Häkel-, Keramik-, Metall-, oder Stickereierzeugnissen nachgebildet, die in Workshops 2021 in Dhaka in Gemeinschaftsarbeit hergestellt wurden.
Und weiter zum Hotel Hessenland, ein phantastischer 50ger Jahre Bau, denkmalgeschützt und leerstehend, für die documenta wieder mit Leben gefüllt. In den oberen Stockwerken sind Künstler, Mitarbeiter etc untergebracht. Im Parterre gibt es eine Klanginstallation des südafrikanischen Teams „MADEYOULOOK“. In dem verdunkelten Ballsaal kann man sich für 20 Minuten ganz dem Hören hingeben, sich verzaubern lassen: Pflanzen, Naturgeräusche, Stimmen, Lieder, was war das noch mal?
„MADEYOULOOK eine Arbeit zum Thema Räumlichkeit: wie wir den Raum beinflussen, wie der Raum uns beinflusst. Ihr Projekt ähnelt dem Terraforming: Es geht um die Veränderung einer Oberfläche, um zu überdenken, wie wir die Welt bewohnen wollen. Dazu baut MADEYOULOOK einen in der Höhe verschiebbaren, wellenförmigen Boden in den Ausstellungsraum ein. Es handelt sich um eine anti-ergonomische Übung, die Effizienz und Komfort ablehnt – Unbehagen wird als Auslöser aktiviert, um die Selbstgewissheit des Körpers außer Kraft zu setzen. Damit versuchen Moiloa und Mokgotho, einen perversen Wirtschaftskreislauf zu „unterbrechen“, der darauf ausgerichtet ist, Schwarze zu othern.“
Kurz erwähnt zum Schluß, meinem Schluß: die Karlsaue, im Schatten schlendern, das eine oder andere entdecken….Und vieles gesehen…vieles nicht..und noch mehr nicht kapiert. Diese documenta 15 ist überreich im Angebot. Was sie zusammengetragen haben, ist unfassbar vielfältig, bezieht so viele Menschen, Organisationen, Kulturen mit ein. Das macht richtig Arbeit! Auch für die Besucher, wenn man denn wirklich einsteigen will. Jedes Kollektiv für sich hat soviel an Geschichte, Programm, Aktivitäten, ufffff …eine wahre Herkules-Aufgabe. Also genau richtig für Kassel. Oder?